Ernte bis Eindeckung

Wie kommt das Reet aufs Dach?

Dachreet: Jede Menge Arbeit für den Naturbaustoff

Wer an Sylt denkt, dem kommen Bilder von brandenden Wellen, verwehten Dünen – und vor allem Reetdachhäusern in den Sinn. Wenn Dachreet in hoher Qualität an der Baustelle ankommt, hat es bereits einen weiten und arbeitsintensiven Weg hinter sich. Erst danach wird aus dem Schilf ein ästhetischer und dauerhafter Naturbaustoff. Die einzelnen Schritte auf diesem Weg zeigen wir Ihnen hier.

Reeternte

Weite Wege braucht das Reet

Bis in die Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts war es noch ganz einfach, an gutes Reet zu kommen. Die Bauern schnitten die Halme einfach an Seen, Gräben oder Moorrändern so, wie es gebraucht wurde - eine willkommene Winterarbeit. Vielerorts, so auch an der Westküste Schleswig-Holsteins, entstand sogar ein schwunghafter Export. Schon ab 1885 gab es etwa in Glückstadt eine Rohrgewebefabrik, die Verputzmatten und Gipsdecken erzeugte.

Erntearbeiter

Wo sind die Reetflächen von früher hin?

Nein, keine Angst, sie wurden nicht abgeerntet und sind dann nie wieder nachgewachsen. Im Gegenteil: Gezielt und schonend beerntete Flächen wachsen umso schneller nach und erzeugen qualitativ besonders hochwertiges Reet. Der Grund, warum die Reetflächen im Norden geschrumpft sind, sind Eingriffe des Menschen in die Landschaft. Entwässerungen durch den Deichbau, für die Landwirtschaft. Flüsse wurden für den Schiffbau begradigt, Altarme verlandeten. Heute sind nur noch 20 Prozent der ursprünglichen deutschen Reetflächen übrig, zum Beispiel auf dem Darß, auf Usedom, auf Rügen und Fehmarn oder in der Weserregion. Diese Areale dürfen nur im Einklang mit strengen Naturschutzregeln beerntet werden. Die Mengen reichen allerdings nicht aus, um die internationale Nachfrage zu decken. Deshalb kommt das Schilfrohr heute aus Polen, Rumänien, Ungarn, Österreich, Türkei oder China.

Winterzeit ist Erntezeit

Frost ist der beste Erntehelfer für die Reeter. Den Frost machten sich schon die Landwirte von Anno dazumal zunutze. So schrieb 1767 der Autor Duhamel du Monceau in seinem Band „Die Kunst des Dachdeckers”: „Man macht auch sehr gute Dächer von Schilfrohre, so in den Morästen wächst. Da der Boden, wo solches wächst, gewöhnlich voll Wasser ist, erwartet man den Winter, und schneidet es alsdenn ab, wenn es gefroren hat. Zu der Zeit ist es sechs Fuß hoch. Man schneidet es in der Mitte mit Sicheln ab, und bindet es mit Strohseilen in Bunde”. Das funktionierte damals einfach so in kleinem Maßstab vor Ort. Heute geht in punkto Reet aber nichts mehr ohne die ausgefeilte Logistik und Planung des Reethandels.

Kein Geld, keine Ernte

Die deutschen Reethändler und -importeure finanzieren die Ernte in den Ländern Osteuropas vor. Das ist nötig, weil heute Sense und Sichel längst nicht mehr ausreichen. Um den Bedarf an Reet zu decken, sind moderne Motorbalkenmäher nötig. Oder sogar Amphibienfahrzeuge, die den empfindlichen Untergrund des Biotops schonen. Jede Stunde, die diese Maschinen laufen, kostet. Also muss genau geplant werden, wie die Ernte abläuft. Die Anbaugebiete werden zuvor von den örtlichen Partnern des Handels geprüft. Experten bonitieren (kontrollieren) die Pflanzen vor Ort. Planquadratmäßig werden die Areale ausgewählt und für jeden Standort geprüft: Sind die Halme nicht zu alt? (Einjährige Pflanzen besitzen am meisten Elastizität, sind daher besonders gut geeignet). Wie ist die Farbe? Die Konsistenz? Sind die Stängel überwiegend gerade? (Krummes wird aussortiert). Wie ist die Farbe? Stimmt die Länge? Ist der Zugang möglich? Was sagt die zuständige Naturschutzbehörde? Erst wenn alles geklärt ist, rücken die Schnitter mit ihren Maschinen an oder ernten es in guter alter Tradition mit der Sichel.

Aufbereitung vor Ort

Je besser das Reet am Ernteort aufbereitet wird, desto höher ist die Qualität des späteren Naturbausstoffs. Die Halme werden von Beimengungen (Blätter, Pflanzenreste) befreit, zu Bunden zusammengetragen, geschnitten, zu pyramidenförmigen Garben bzw. Hocken aufgestellt und so noch einmal gründlich getrocknet. Die Sorgfalt bei der Aufbereitung und Trocknung spielt eine wichtige Rolle bei der Haltbarkeit des späteren Baumaterials.

Reettransporter

Fachgerechter Transport

Früher warf man die Reetbunde einfach auf einen landwirtschaftlichen Wagen – und los ging's. Heute wissen Reetimporteure und -händler, dass auch der fachgerechte Transport entscheidend für die Qualität des Endproduktes ist. Wem auf der Autobahn ein LKW mit Reet begegnet, der macht sich in der Regel keine Gedanken über solche Dinge. Weiß nicht, dass die Reethändler spezielle Transportfahrzeuge entwickelt haben, die den Bunden unter einer Plane Luft zum Atmen lassen. Denn stehende, womöglich feuchte Luft ist Gift für das Reet. Diese Regel befolgen die Reethändler auch beim Bau ihrer Lagerhallen, die luftig und hoch gestaltet werden. .

Das muss mal einer zählen

Ziegel sind leicht zu zählen, Festmeter Holz vielleicht noch gerade abzuschätzen. Aber wie weiß der Reethändler, was eigentlich bei ihm lagert und für wie viele Dächer das reicht? Wie berechnet er den Prozentsatz der Ware, die die strengen Eingangskontrollen für das Lager nicht bestehen? Reet hat eigene Maßeinheiten:

Ein Bund: Ist die Menge Halme, die ein Schnitter mit beiden Händen umspannen kann. Der Normalbund hat einen Umfang von 55-60 Zentimetern. Wer ein Dach rund 40 Zentimeter dick decken will, braucht 12-15 Bunde pro Quadratmeter, bei beleibteren Bunden entsprechend weniger.
Stieg und Fimm: 20 Bunde bilden ein „Stieg”, regional auch Draaf genannt. 100 Bunde sind ein Fimm.

Kommissionieren leicht gemacht

Der Handel hat sich auf Packeinheiten (PE) von 20, 50 oder 100 Bunden geeinigt.

Just in time geliefert

Reet wird immer erst dann auf die Baustelle geliefert, stundengenau („just in time”) wenn es der Dachdeckermeister wirklich braucht. Auch dieses Vorgehen dient der Qualitätssicherung. Nur so können schädliche Einwirkungen auf das Naturmaterial (Schnee, Nässe, Verunreinigung) ausgeschlossen werden.

Und wenn ich Nachschub brauche?

Ein Reetdach ist eine Investition für eine ganze Generation und mehr. Trotzdem geht mal etwas kaputt. Oder es wird eine neue Gaube ausgebaut, weil die Kinder einen Spielraum wollen. Dann wird, ähnlich wie bei Strickwolle, wieder die gleiche Partie, Farbe, Beschaffenheit gesucht. Dank der ausgefeilten Materiallogistik der Reethändler, die seit Jahrzehnten mit ihren Reeterntern zusammenarbeiten, und einer ausgeklügelten Lagerhaltung ist es problemlos möglich, auch nach langer Zeit wieder „sein” Reet nachzuordern.

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