Regionales
Regionale Unterschiede beim Reetdach
Vorspann: Häuser der Heimat: Die ländliche Reetdachhauskultur jeder Region hat sich individuell ausgeformt. Mit den Materialien, die es vor Ort gab. Mit Grundrissen, die der Landwirtschaft dienten. Mit Dächern, unter denen der Rauch vom Kamin entlang zog. Mit unterschiedlichen Speichermöglichkeiten für Getreide und Stroh. Mit Stallungen für Schwein und Kuh. Und Zimmern für die Menschen. Alles unter einem Reetdach. Damit fing es an. Mehr lesen Sie auf den folgenden Seiten.
Haustypen
Reetdachhaustypen
Schöne alte Reetdachhäuser (und viele moderne Villen im alten Stil) finden sich keineswegs nur an der Nord- und Ostseeküste, sondern auch im Binnenland. Jedes Jahr strömen viele tausend Menschen beim Tag des Offenen Denkmals in die Reetdachhäuser. Diese Zeugen alter Baukunst stehen in Niedersachsen, Brandenburg, im Spreewald, in Mecklenburg und sogar im Schwarzwald. Das sind die wichtigsten Typen:
Das „Niedersachsenhaus”
So nennt der Volksmund das niederdeutsche Hallenhaus. Dieses Fachwerkhaus ist typisch für den Norden, aber auch für Westfalen oder Mecklenburg. Daran erkennt man das Niedersachsenhaus: Unter dem Reetdach befindet sich ein langgestreckter, kaum gegliederter Innenraum. Oben, unter dem Reetdach, lagerten früher die Erntevorräte. Von dort kann man auf eine große Diele in der Längsachse gucken. Sie ließ sich mit Wagen befahren. Hier wurde im Winter das Korn gedroschen. Gleich nebenan grunzten die Schweine, muhten die Kühe in ihren Stallungen. Selbst umgebaute Niedersachsenhäuser sind heute noch gut an ihrer „Grotdör” (der großen Dielentür) an der Giebelseite zu erkennen. Wer ganz durch die Diele geht, landet Im „Flett”, einem quer gelegenen Raum, in dem sich anfangs eine offene Feuerstelle befand. Das Niedersachsenhaus wuchs in der Geschichte mit der Landwirtschaft: Ab dem 16. Jahrhundert bauten viele Inhaber hinter dem Flett ein neues Kammerfach mit Zimmern für sich und die Familie an. Wohlhabendere machten aus dem einfachen Zweiständerhaus ein Drei- oder sogar Vierständeranwesen.
Der Haubarg
Sie wirken mächtig unter ihrem steilen Reetdach: Die Haubarge prägen die Landschaft auf der Halbinsel Eiderstedt, wo sie oft auch „Vierkant” genannt werden. Ein quadratischer Grundriss – er findet sich bei allen Haubargen. Quadratisch, aber nicht praktisch: Wer sich mit der Landwirtschaft auskennt, kann sich vorstellen, wie schwer es war, Heu und Stroh sauber unter dem Reetdach zu stapeln. Deshalb wurde dieser Haustyp von wirtschaftsgerechteren Formen abgelöst. Schöne Haubarge sind heute auch die Attraktion in den Freilichtmuseen in Molfsee bei Kiel oder in Lynby/Dänemark.
Das Kätnerhaus
In Norddeutschland sagt man „Kätnerhaus” zu einem Bautyp, in dem früher die Kleinbauern und Landarbeiter wohnten. Es ist langgestreckt, barg früher Platz für mehrere Familien, die sich Küche und Flur teilten. Oft wurden mehrere dieser Kätnerhäuser rund um einen Gutshof errichtet. Im Spreewald gibt es einen eigenen Typ, das so genannte Spreewaldhaus. Es besteht, im Gegensatz zu den Kätnerhäusern des Nordens, nicht aus Fachwerk. Dazu waren die Bauplätze zu morastig. Im Spreewald wählte man Blockbauten auf Findlingen. Und auf dem Dach findet sich hier Kolbenschilfrohr, meist stufenförmig verlegt.
Das Schwarzwaldhaus
Schwarzwaldhöfe sind an den breit ausladenden Walmdächern zu erkennen, die wie eine tiefsitzende Haube das Haus schützen. Die meisten Bauernhöfe im Schwarzwald wurden im 16. und 17. Jahrhundert errichtet. Schon damals gab es nämlich einen ersten Strukturwandel: Kleinere Höfe wurden zu größeren zusammengelegt. Alles unter einem Dach, Mensch, Vieh, Vorräte – das war auch hier das Prinzip. Die Dächer tragen heute Reet. Das sieht schön traditionell aus. Ist es in diesem Fall aber nicht: Begonnen wurde einst mit Roggenstroh als Dachdecke. Und mit Schindeln, die man in den Wintermonaten schnitzte. Erst in neuerer Zeit wurden viele dieser Dächer bereetet. Und das hat seinen guten Grund: Reet hält mindestens doppelt so lang wie ein Strohdach.
Firste
Firste verraten regionale Handwerksfinesse
Die Gestaltung des Firstes ist die Königsdisziplin des Reetdachdeckers. Denn der oberste Teil des Daches ist zugleich sein empfindlichster. Er muss besonders vor Sturm und Regen geschützt werden und soll zugleich attraktiv aussehen. Wie man das schafft? Dazu haben sich im Laufe der Jahrhunderte regionale Handwerkstradtionen herausgebildet, die Schönheit und Schutz für das Reetdach verbinden. Die wichtigsten:
Der Sodenfirst
An der schleswig-holsteinischen Westküste, auf den Inseln und Halligen lassen die Fachhandwerker gern „das Dach wachsen”: Sie belegen die Firste mit Soden. Das sind Grasplaggen, die in den Salzwiesen des Deich- vorlandes gestochen werden. In den Zeiten vor den Bauaufzügen brauchte der Dachdecker kräftige Arme, um die Soden hochzuwuchten: Eine ist bis zu 1,50 Meter lang, bis 30 Zentimeter breit und rund zehn Zentimeter tief. Sie bringt 35 Kilo auf die Waage. Die Plaggen werden versetzt auf eine schützende Schicht aus Bitumenpappe oder Polymerschweißbahn verlegt und mit Holznägeln fixiert. Ein Grassodenfirst hält 15 bis 20 Jahre. Damit er immer grün sprießt, wird oft ein Schlauch zur Bewässerung in den trockenen Sommermonaten eingebaut.
Der Heidekrautfirst
Heidekraut auf dem First hat seinen Ursprung in der niedersächsischen Heide Region, ist jedoch auch auf dem schleswig-holsteinischen Geestrücken immer häufiger zu sehen. Der Heidefirst läuft der Grassodenvariante zunehmend den Rang ab, weil es aus Naturschutzgründen schwierig geworden ist, eine Entnahmegenehmigung für Grassoden im Deichvorland zu bekommen. Anders als die Vorväter, dürfen heutige Bauherren auch nicht einfach Heidekraut abmähen. Das verbietet der Naturschutz. Der Reethandel hat sich auf diese Tatsache eingestellt und bietet Heidekraut in großen, gepressten Ballen an, die aus Dänemark und Holland importiert werden. Der Dachdecker befestigt auf beiden Seiten des Firstes einen Kunststoffummantelten Maschendraht, stopft das Heide-Kraut hinein und sichert das Ganze mit einem Nylongewebe gegen Sperlingsfraß. Ein Heidekrautfirst hält etwa zehn Jahre, zwischendurch muss aber „nachgestopft” werden, weil das Kraut zusammensackt.
Der eicherne Dachreiter
In Angeln, also zwischen Schleswig, Flensburg und Kappeln, gibt es besondere „Hingucker” an den Firsten: die „Angeliter Reiter”. Das sind eicherne Dachreiter, acht Zentimeter dick und bis 1,50 Meter lang. Sie werden mit einem Holznagel scharnierartig verbunden, dann auf den First gelegt und dort festgenäht. Die je rund zwölf Kilo schweren Reiter sind zwar nicht ganz billig, aber sie ersparen dem Bauherrn die Befestigung auf Heidekrautfirsten.
Der Reetfirst
Ein Reetfirst gilt unter Dachdeckern als Königsdisziplin überhaupt. Vor allem im Osten Schleswig-Holsteins sind solche Meisterwerke zu finden. Sie fordern selbst den Könner: Für einen Reetfirst müssen die Halme mit dem Wurzelende nach oben gedreht und das Bund auf Höhe geklopft werden. Dann näht der Dachdecker das Rohr mit Nirosta-Bindedraht an die Dachlatten. Zum Schluss schneidet er die überstehenden Halme und Ähren mit seinem Reetmesser stufenweise zurück.
Der First-Phantasie sind keine Grenzen gesetzt
Jeder möchte ein individuelles Reetdachhaus. Und da lassen sich die erfahrenen Dachdeckermeister gern für jede Familie etwas Neues einfallen. Neben den traditionellen Firsten überraschen immer mehr Häuser mit neuartigen Firstlösungen: Es gibt Hauben aus Blech, Asbestzement oder Kunststoff. Derzeit im Trend: Kupferblechfirste. Sie setzen Grünspan frei, der gegen Moos und Algen vorbeugt. Immer häufiger zu sehen sind Dachziegelfirste. Sie stammen aus Holland und können ein uriger Hingucker für ein meisterhaft gedecktes Dach sein.
Dachschmuck
Dachschmuck: Symbole aus alter Zeit
Kaum ein Berufsstand ist so sehr den Unbilden der Witterung und des Klimas ausgesetzt wie die Landwirtschaft. Die Bauern von anno dazumal versuchten daher, mit besonderen Schmuckelementen auf ihren Reetdachhäusern den Segen für die Ernte, Mensch und Scheuern auf sich zu lenken – oder Schaden abzuwehren. Hölzerne Hauszeichen am Giebel sollten diese Hoffnung schon von weitem sichtbar machen. Das sind die wichtigsten:
Pferdeköpfe
Oft als gekreuzte Windbretter am Giebelfirst zu finden. Die Verehrung des Pferdes hat ihren Ursprung in der indogermanischen Mythologie. Bereits die Siedler der Bronzezeit (3000 bis 1000 vor Christus) kannten Pferdeköpfe als Giebelschmuck. Sind sie nach außen gekehrt, sollen sie, so die Überlieferung Unheil vom Haus abwenden. Sich ansehende Pferdeköpfe sollen dagegen das Glück von außen heranwinken.
Giebelspieß
Vor allem in Ostholstein ist der Giebelspieß eine typische Verzierung. Dieser senkrechte Holzstab als krönender Abschluss des Firstes ist wohl slawischen Ursprungs. Auch hier sind der Fantasie der Bauherren keine Grenzen gesetzt: Es gibt sowohl einfache Holzspieße als auch solche mit Kugeln oder Blumenornamenten. Auch der Giebelspieß ist ein altes Schutz- und Abwehrsymbol.
Stierhörner und Ochsenschädel
Im Schwarzwald und den Alpen finden sich oft Stierköpfe am Giebel, alte Symbole der Kraft und der Fortpflanzung. Noch heute hängt an einigen Schwarzwaldhäusern hoch oben am Giebel ein Ochsenschädel. Er soll das Böse abwehren. In Mecklenburg findet sich als Firstschmuck häufig ein aus Holz geschnitzter Ochsenschädel. Der so genannte Mecklenburger Ochse findet sich auch auf der Landesflagge wieder.
Gekrönte Schlangen
Sie sind eine typische Firstverzierung aus dem Spreewald. Schlangen galten dort als Wächter des Hauses. Diese Symbolkraft stammt aus der slawischen Mythologie.
Das Eulenloch
Stilprägend für die Ästhetik gewachsener Reetdachhäuser ist das Eulenloch, auf Plattdeutsch „Uhlenlock”. Der kleine Durchlass an der Giebelspitze des Reetdaches diente früher sowohl als Rauchabzug (die frühen Reethäuser hatten noch keinen Schornstein) als auch für die Licht- und Luftzufuhr auf den Boden. Das Eulenloch ermöglicht Schleiereulen oder Steinkäuzen den Zugang (sie hielten das Erntegut mäusefrei). Ursprünglich schlicht, wurden die Windbretter am Uhlen-Lock später je nach Region unterschiedlich verziert. Das Uhlenlock ist aber auch Gegenstand ländlicher Mythologie: Hier wohnte dem Volksglauben zufolge der Hausgeist „Nis Puk”. Er war ein guter Geist, der sogar den Knechten bei der Arbeit half. Falls man ihn reizte, zeigte er sein anderes, spitzbubiges Gesicht…
Storchennest
Immer mehr Althausbesitzer nutzen, oft mithilfe der lokalen Feuerwehren, die Möglichkeit, ein Storchennest auf ihrem Reetdach zu befestigen. Das ist gute alte ländliche Tradition. Und das Warten auf den Adebar im Frühling schafft Gesprächsstoff mit den Nachbarn. Schön ist es, wenn man ein altes Waagenrad als Nistunterlage bereitstellt. Was wie ein Trend zurück zur Natur wirkt, ist eine uralte Segenssitte: Ein Adebar auf dem Haus, so wussten schon die Alten, bringt Fruchtbarkeit, Schutz vor Blitz, Feuer und Krankheiten.