Tim und Linus sehen ihre Chance im Traditionsberuf des Reetdachdeckers:

Mit Klopfbrett und Feststeckern

Wenn sie auf das Dach steigen, bleibt so mancher Passant neugierig stehen: Um 7 Uhr morgens beginnen Tim Kleeberg und Linus Sehne mit anderen Kollegen ihren Arbeitsalltag diesmal auf einem über 200 Jahre alten Wohn- und Wirtschaftsgebäude im Kreis Plön. Die beiden sind keine gewöhnlichen Dachdecker, sondern lernen den seltenen Beruf des Reetdachdeckers.

Von Ulrike Schwalm

„Sechs Wochen werden wir hier zu tun haben, um die eine Dachseite – 250 Quadratmeter – neu einzudecken“, berichtet Tim Kleeberg. Zuvor haben er und Linus Sehne bereits das alte Reet abgetragen, das Gebäude energetisch ertüchtigt, eine konstruktive Luftschicht hergestellt und neu gelattet. „Auch die Gauben haben wir neu angepasst“, sagt der junge Mann.

Im Garten des Bauernhauses sortiert er die vom Unternehmen Hiss Reet angelieferten Bunde. „Ich schaue, dass die Bunde schön sauber sind und sortiere sie nach Länge.“ Der gebürtige Oldenburger muss aber auch darauf achten, wo seine Kollegen vom Reetdach-Kontor Ostholstein GmbH & Co.KG gerade „oben“ arbeiten: „Ich sortiere die unterschiedlichen Längen für die Fläche, Traufe, Kehle, First und Ortgang. Jede Lage hat andere Anforderungen und die Flächen sollen am Ende ja auch schön aussehen“, sagt der junge Auszubildende.

Tim Kleeberg wirft die Bunde hoch. Auf dem Dach wird er später seinen Altgesellen Marcel Haye
dabei helfen, das Reet an der Gaubenwange einzudecken. Erst wird Bund für Bund unter die Stange gelegt und zunächst mit Feststeckern fixiert. Die Feststecker sind sichelförmige Metallwerkzeuge, mit denen die Lage des Stangendrahts festgelegt wird. „Er soll immer auf der gleichen Höhe sein“, erklärt Tim Kleeberg. Sein Azubikollege Linus Sehne schraubt inzwischen unterhalb einer zweiten Gaube eine Edelstahldrahtschraube in die Lattung. Eine Schraubverlängerung hilft dabei. Tim Kleeberg macht sich inzwischen daran, der Traufe mit dem Klopfbrett die Form zu geben. Keine leichte Arbeit für den Azubi: „Da zählen absolutes Augenmaß und Gefühl.“ Die Klopfbretter werden selbst gebaut aus einer Platte mit Kupferringen. Zum Schluss kommt nur der Stiel dran.

Schwerpunkte setzen während der Lehrzeit

Beide Männer sind auf Umwegen zu ihrem ungewöhnlichen Beruf gekommen. Bei Tim war es der Opa, der ihn zu diesem Beruf geführt hat: „Er war Bauhandwerker und hat mich auf die Idee gebracht, die Lehre zu beginnen“, erzählt er. Der Betrieb wurde ihm von einer Lehrerin empfohlen. Er selbst ist Fehmeraner, der Reetdächer als Teil seiner Inselheimat wahrnahm. Anfang Januar hat er sein erstes von insgesamt drei Lehrjahren gestartet. „Zu Beginn der Lehre entscheidet man sich für einen Schwerpunkt. Die ersten zweieinhalb Jahre lernen allerdings erst mal alle zusammen. Im letzten halben Jahr kommt noch zusätzlich der gewählte Schwerpunkt dazu“, erzählt er. Zur Auswahl stehen Steildach, Flachdach, Fassade, Energiesammler oder eben Reet. Wenn man sich für einen Schwerpunkt entschieden hat, wird dieser im Betrieb über die gesamte Lehrzeit besonders intensiv gefördert.

Vom Bürokaufmann zum Dachdecker

Linus Sehne ist schon ein wenig weiter mit der Lehre. „Für mich endet die Ausbildung in eineinhalb Jahren. Ich hoffe, dass ich dann übernommen werde.“ Er hat das Reetdachdeckerhandwerk als zweite Karrierechance entdeckt. „Ich hatte vorher eine Ausbildung zum Bürokaufmann begonnen“, sagt der Realschulabsolvent, der allerdings lieber etwas Praktisches machen wollte. Das Umschauen hat sich gelohnt. „Meine heutige Chefin bot mir zwei Wochen Praktikum an, vor allem das Arbeiten im Team hat mir sofort gefallen.“ Am Liebsten gefällt ihm das Einlatten und das Gaubenbauen – „weil man da sehr konzentriert arbeiten muss und auch gut im Kopfrechnen sein muss.“

Dem Reetdachdecker-Handwerk fehlt der Nachwuchs, denn die Branche boomt

Mathe und Physik

„Mathematik und Bauphysik – wer Reetdachdecker werden möchte, muss in den beiden Fächern hinlangen“, sagt Vorarbeiter Marcel Haye. In ihren Jahrgängen gehören Tim und Linus mit ihrer Berufswahl zu den Ausnahmen: Viel zu wenig junge Leute entscheiden sich für eine Ausbildung im Reetdachdeckerhandwerk. „Es ist schwierig, Nachwuchs zu finden“, sagt Katrin Jacobs, Inhaberin des Reetdach-Kontor Ostholstein. Die Dachdeckermeisterin ist zugleich stellvertretende Obermeisterin der Reetdachdeckerinnung Schleswig-Holstein. Sie wünscht sich mehr junge Leute wie Tim und Linus. „Wir brauchen dringend Nachwuchs, denn unsere Branche boomt, unter anderem, weil zum Teil ganze Feriendörfer mit Reet eingedeckt werden. Der Naturbaustoff hat einen Kuschel- und Wohlfühlfaktor, ist nachhaltig und für innovative Architekten auch in Dach- und Innenräumen als Dämmung vielseitig einsetzbar.“ Azubis erwartet also beste Berufsaussichten. Nur haben das erst wenige Schulabsolventen entdeckt.

„Bei der Wahl eines Auszubildenden stecken wir keine engen Grenzen, der Schulabschluss ist nicht entscheidend. Wichtig sind handwerkliches Geschick und Sozialkompetenz. Wer Spaß und Freude am Beruf hat und einen guten Betrieb, der schafft es auch.“ Lernen, mit den Augen zu lernen – darauf kommt es beim Reetdachdecken ganz besonders an. „Aus Altem machen wir stilgerecht Neues“, dieses Motto hat Marcel Haye den Azubis eingeschärft. Auch er hat vor Jahrzehnten viele besondere Kniffe im Umgang mit dem Naturwerkstoff Reet von seinem Meister gelernt.
„Die Regeln sind beinahe noch die gleichen wie die ersten niedergeschriebenen Regeln aus dem Jahr 1926“, sagt Katrin Jacobs. Aber die Nutzung der Häuser habe sich stark verändert. „Heute wird jeder Quadratmeter ausgebaut und vor allen Dingen auch beheizt, da muss man bauphysikalisch sensibel vorgehen.“ Es braucht neben den handwerklichen Fähigkeiten für diesen Beruf also auch Wissen und Verstand.

Autorin

Ulrike Schwalm ist Magister Artium Anglistik mit langjähriger Tageszeitungserfahrung. Sie ist als freiberufliche Übersetzerin, PR-Redakteurin, Texterin und Lektorin tätig.

Altes Handwerk, gute Einstellungschancen

Dank der umfangreichen Arbeiten der Reetdachdeckerinnung Mecklenburg-Vorpommern, gehört das Reetdachdeckerhandwerk mittlerweile zum immateriellen Kulturerbe der Unesco. Die ersten Reetdächer gab es hierzulande bereits vor 4000 Jahren. Im 20. Jahrhundert wurden die ersten Fachregeln für den Beruf herausgegeben. Der Lehrberuf des Dachdeckers, Fachrichtung Reetdachtechnik, ist 1998 ins Leben gerufen worden. Als Vorläufer diente ab 1993 eine überbetriebliche Ausbildung in Lübeck-Blankensee. Bundesweit gibt es nur zwei Reetdachdeckerinnungen – je eine in Mecklenburg-Vorpommern (20 Mitgliedsbetriebe) und in Schleswig-Holstein (36 Mitgliedsbetriebe). Die meisten Mitgliedsbetriebe bieten Praktikumsplätze für junge Leute an.

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